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24
September
Soundtrack meines Lebens, vier.
Überhaupt hat die h. ziemlich gute Ideen. In dieser Zeit fehlen wir an mehr Unterrichtsstunden als wir anwesend sind, und da die Fehlstunden auf dem Zeugnis auffallen würden, trägt sie als Klassenbuchführerin uns zwei gewissenhaft vor den Stunden mit blauer Tinte ein, die sie nach unserem Wiedereintreffen mit Tintenkiller auslöscht. Als wäre nichts gewesen. Wir liegen auf der hoch mit Grad bewachsenen Wiese hinter der Schule mit im nahen Supermarkt gekauften Süßigkeiten, oder wir spielen eine Partie Billard in der Pommesbude um die Ecke, oder wir fahren in die Stadt.
Mein Klassenlehrer ist ein ehemaliger Zeitsoldat, dessen Erziehungsmethoden eher fragwürdig sind. Ich mag ihn trotzdem, denn mit fragwürdigen Erziehungsmethoden bin ich durchaus vertraut.
Niemals in meinem ganzen Leben schreibe ich mehr Aufsätze als in dieser Zeit, bis die h. von ihren Eltern von der Schule genommen wird, damit sie den r., mit dem sie übrigens zehn Jahre später eine Großfamilie gegründet haben wird, nicht mehr treffen kann. Der Klassenlehrer jedenfalls meint, Erziehung funktioniere vor Allem über Strafe. Außerdem belustigen ihn unsere Bemühungen, unbemerkt in der Pause zur Bude zu gehen, oder eben Stunden zu fehlen, oder was uns sonst noch so einfällt. Einer meiner Aufsätze, “Als ich einmal Michael W.s linker Ski war” - aus Anlass meines unerlaubten Verlassens der Skiloipe mit einem kleinen Ausflug auf die nahegelegene Abfahrtspiste mitsamt Kopfüberlandung in der ersten Schneewehe - wird sogar in der Schulzeitung veröffentlich ( und da sage einer, man kann sich nicht auf eine glänzende Bloggerkarriere vorbereiten! Öhm, ja).
Die m. wird Jahrtausende später meinen, mein Hang, zu Allem etwas sagen zu können bzw. zu müssen, rühre sicherlich aus dieser Zeit her, in der ich zwangsweise zu allem etwas sagen muss, denn die Aufsatzthemen werden natürlich vorgegeben. Von besagtem Lehrer lerne ich auch Härte gegen mich selbst, denn als Sportlehrer kann er jede Ausrede bestechend logisch retournieren. So entwertet er beispielsweise meinen Hinweis, ich könne die 2000 Meter keinesfalls weiter laufen, da ich Kreislaufprobleme habe, mit der Ansage, das sei gar nicht weiter schlimm, schließlich sei der Sportplatz oval. Ich sammle viele verbale Juwelen in unserer gemeinsamen Zeit.
Die h. hat ja diesen Freund, der in dieselbe Stufe geht wie mein Freund und den sie nicht haben darf - jedenfalls, wenn es nach ihren Eltern geht. Da sie dem Eigensinn der h. gegenüber vollkommen machtlos sind, beschließen sie, sie zu einer anderen Schule zu schicken, damit sie ihn nicht mehr treffen kann, und rauben mir damit die eine, einzigartige, beste, tollste und wahrste Freundin, die ich habe, jemals hatte und nach meiner Einschätzung jemals haben werde. Einsame Schulstunden stehen mir bevor, ich ahne es.
Ich bin 17, liefere mir einen fortwährenden und sehr ermüdenden Dauerkampf auf verschiedenen Haupt- und Nebenkriegsplätzen mit meiner Mutter, und während sie sich darüber sorgt, wie ich wohl die Gosse, in der ich ihrer festen Überzeugung nach landen werde, überstehen soll, sorgt sich mein Freund um meinen Gemütszustand - etwas, was ihn mit seiner Mutter verbindet, die mich nach kurzer Zeit bereits bei der Begrüßung durchschaut, in die Küche zerrt und nötigt, ihr mein Herz auszuschütten, was ich gern und häufig tue.
Und da diese beiden sich so ausufernd um mich sorgen, überlasse ich ihnen diese Aufgabe zukünftig gern vollständig und wende mich anderem zu. Um mich selbst mache ich mir keine Sorgen, denn Unkraut vergeht nicht. Im Gegenteil bin ich auf der Suche nach dem einen perfekten Marillion-Song, etwas, was mich noch eine ganze Weile mit wechselndem Ergebnis beschäftigen wird. Für den Moment ist es allerdings Jigsaw: Screaming out a ceasefire, snowblind in an avalanche zone.
That´s me, indeed.
[Soundtrack meines Lebens]
 
 
Soundtrack meines Lebens, drei.
Nachdem ich also eine angemessene Zeit , in etwa vier bis sechs Wochen also, gelitten habe, wende ich mich wieder dem pubertären Leben zu - was heißt, ich hasse mich selbst und meine Eltern im Wechsel, teste alle möglichen Schminktipps und trage Kleidung in Farben und Schnitten, die man euphemistisch als unvorteilhaft beschreiben kann. Warum? Weil es toll ist, warum denn sonst? Meine besten Freundinnen tragen orange und apfelgrün, warum sollte ich das dann nicht auch tun?!

Und nein, nicht mehr die Zwillinge sind meine besten Freundinnen, auch nicht die, die es noch zur Zeit der Sternwanderung waren - von den einen habe ich mich abgewandt, so wie die anderen sich von mir abgewandt haben - meine aktuellen besten Freundinnen sind die a., die quasi um die Ecke wohnt, die h. und die s., aber die s. nicht richtig, die hängt sich nur genau wie ich an die h. und buhlt um ihre Gunst - eine Gunst, die ich innezuhaben glaube. Außerdem ist da der t., zwei Stufen über uns, Volleyballspieler, den die h. kennt, und den ich toll finde (die s. natürlich auch, denn die findet alle toll, die ich toll finde).
Jedenfalls finde ich den t. so toll, dass ich, nachdem ich gemeinschaftlich mit der h. beschlossen habe, den Religionsunterricht zu blocken allein reiche nicht mehr aus, Religion offiziell abwähle und damit in dieser Zeit in einer anderen Klasse hospitieren muss. Ich heuchle reges Interesse daran vor, mich für die anstehende, folgenschwere Entscheidung zwischen Latein und Französisch zu wappnen, und suche mir zum Hospitieren die Klasse vom t. aus. Von da an himmle ich ihn, um genau zu sein seinen Hinterkopf, zwei Stunden pro Woche von ganz hinten aus der Klasse an. Am Ende habe ich ihn allein durch schweigende Präsenz so weit gebracht, dass er mich wahrnimmt und, wenn er nachmittags auf sein weißes Mofa steigt, um knatternd den Schulparkplatz zu verlassen, grüßend die behandschuhte Hand hebt.

Ich spare all mein Taschengeld, um Platten zu kaufen; bei einem Elektrohändler im anderen Teil meines Vorortes bestelle ich die Maxi von Frankie goes to Hollywoods “Power of Love” für den nahezu unerschwinglichen Preis von 13 Mark und höre es stundenlang - die Nadel versetze ich mit nicht gekannter Geduld immer wieder an den Anfang der Rille.

Nach ungefähr eineinhalb Jahren spricht der t. sogar mit mir; und irgendwann fragt er mich auf dem Schulhof, ob ich mit ihm gehen will. Entrückt nicke ich, wir nehmen uns gegenseitig an die Hand und gehen also miteinander, vorerst zu den anderen zurück, die uns unverhohlen und neugierig bei unserer Beziehungsbildung zugeschaut haben.
Wie das mit dem Küssen ist, lernen wir zwei - er schmerzlich, ich eigentlich auch, aber anders - am nächsten Tag, als wir uns nach einem Nachmittag, den wir Hände haltend und schmachtend gegenüber sitzend am Wohnzimmertisch verbracht haben, voneinander verabschieden wollen und er mir seine Zunge in den Mund schiebt, in die ich sowohl erschrocken als auch herzhaft beiße (Im Laufe der Jahre werden meine Kußfähigkeiten sich noch verbessern, jedenfalls sollen keine Klagen mehr kommen). Natürlich kann ich meine Verwirrtheit auch darauf schieben, dass mein Vater, als er nachmittags vom Baumarkt heimkommt und uns so einträchtig beieinander sitzen sieht, nichts Besseres zu tun hat als dem t. einen Aufkleber des Baumarktes zu schenken, dessen Aufschrift lautet “Mit Liebe nageln.”. Dass ich vor Scham und überhaupt gern hochroten Gesichtes im Erdboden versinken möchte, erklärt sich von selbst.

Samstags fahren wir mit einem Haufen Freunde Eislaufen, wofür wir alle zusammen am Hauptbahnhof in einen Bus steigen, der uns eine halbe Stunde lang durch die Gegend karrt, um uns in der Nachbarstadt mit Eisstadion in einen ungezwungenen Nachmittag zu entlassen. Samstags ist auch Hauptarbeitstag an unserem Haus; der schreinernde Opa ist da und baut mit dem Vater das aus und um, was noch aus- und umzubauen ist, und alle, mich eigentlich eingeschlossen, haben alle Hände voll zu tun. Es kostet mich Mühe, meinen Bruder oder die anfallenden Aufgaben abzuschütteln, aber oft, wenn auch nicht immer, gelingt es mir.

Latin Quarter ist eine der Bands, die der t. in mein Leben bringt; zuerst kaufe ich die Platte, weil mich interessiert, was er hört, dann höre ich sie, weil ich sie mag. Später kaufe ich sogar die CD, als die Platte abgeschrammelt nicht mehr hörbar ist; mein Lieblingslied wechselt ständig, aber es ist Modern Times, mit dem meine Liebe zu der Band beginnt.
Wir sehen uns in den Schulpausen, wir sehen uns nachmittags, wir streiten uns und versöhnen uns, um uns wieder zu streiten - und wenn wir uns nicht sehen und streiten und versöhnen, schreiben wir uns lange Briefe, in denen wir uns wechselseitig unsere Liebe immer und immer wieder versichern, und in denen wir uns über unseren jeweiligen Kampf mit einem Elternteil (er mit seinem Vater, ich mit meiner Mutter) auslassen.

An dem Nachmittag, an dem er mir lapidar und kurzab am Telefon mitteilt, dass er mich nicht mehr liebt und es deswegen aus ist - “Ich liebe dich nicht mehr und deshalb ist es aus” - lege ich entsetzt erst auf, warte dann, ob er nochmal anruft - er ruft nicht nochmal an - und rufe dann in Tränen aufgelöst die a. an; dort erfahre ich, dass sie gerade eben eine Krisensitzung mit dem r. bezüglich des Endes meiner Beziehung hält, denn der r. hat den t. am Tag zuvor bereits mit seiner neuen Freundin gesehen.
Sie kommen mit drei Tüten Gummibärchen vorbei, die wir solidarisch teilen; die a. mag die grünen am liebsten, der r. die roten, und ich die gelben und orangenen. Mit den weißen bewerfen wir uns hysterisch kichernd gegenseitig; einige von ihnen werde ich Jahre später, als ich ausziehe, mit einer klebrigen Staubschicht überzogen hinter einem Schrank von der Wand abknibbeln.
Zum Eislaufen baue ich ein eher gespaltenes Verhältnis auf - nicht zuletzt, weil der t. es als quasi beste Möglichkeit ansieht, mir seine neue Freundin vorzustellen, indem er sie vor meinen Augen im Pausenraum, während im Inneren ein Planierfahrzeug das aufgerauhte Eis wieder glättet, sehr innig küsst. Ich lege mich auf die Eisbahn und lasse mich planieren, eine dünne Eisschicht überzieht mich, lähmt mich, hindert mich an jeder weiteren Bewegung. Ich bin gefroren und taub.

Es heißt “The first cut is the deepest”, und lange werde ich daran glauben - vielleicht aber auch nur, weil für eine lange Zeit überwiegend meine Hand es sein wird, die das Messer führt; jedenfalls bin ich für den Moment mehr als bedient. Ich bin fünfzehn Jahre alt, leide fürchterlich unter meiner Eisschicht, bin ungeheuer unleidlich, verkrache mich in Folge dessen mit meinen besten Freunden und werde ins Kloster gehen, sobald ich die Schule hinter mich gebracht haben werde. Soviel ist sicher.
[Soundtrack meines Lebens]
 
 
Soundtrack meines Lebens, zwei.
Sternwanderung in der Schule, ein warmer Frühlingstag; wir sind mit dem Zug ins Niemandsland des Hochsauerlandkreises gefahren und arbeiten uns zum gemeinsamen Endziel, an dem sich alle Stufen wiedertreffen, vor.
Wir Freundinnen hängen zusammen in einer Ecke und schmachten die Objekte der Begierde an - jede von uns einen aus einer Gruppe Freunde drei Stufen höher, manche von uns auch gleich zwei - man nimmt das in diesem Alter irgendwie noch nicht so genau - eh ist das Begehren mehr eines um des Begehrens Willen als das Verliebtsein in eine bestimmte Person.
Da uns unser eigenes Schmachten selbst peinlich ist, achten wir ebenso peinlich darauf, dabei unter uns zu bleiben, und so schicken wir Kornelia, deren Zwilling heute krank daheim bleiben musste, weg - “nichts gegen dich, natürlich, aber, naja, wir wollen lieber unter uns sein”. Eines der Dinge, die ich getan habe, die mir jetzt noch leid tun und es wohl auch immer tun werden - Kinder und Grausamkeit, gewollt oder nicht gewollt, welche Rolle spielt das schon? Aber so ist es, wir schicken sie weg, und natürlich geht sie, sie ist eh immer der unaufdringlichere der Zwillinge gewesen, und sucht sich eine andere Gruppe, der sie sich anschließen kann.

___ Einen von ihnen, den T., kenne ich, und den schmachte ich natürlich an; er ist der Sohn einer Freundin meiner Mutter, und wir haben uns vor ein paar Monaten kennengelernt, als meine Mutter mich nötigte, zum Besuch bei der Freundin mitzukommen, um ihn mal kennenzulernen, der sei nämlich ein richtig Netter.
Das ist er wirklich, auch wenn uns anfangs nicht viel mehr verbindet als die Ablehnung des überwiegenden Teils unserer Mitschüler - während ich mich mit kleineren und größeren Schikanen im allgemeinen Schulalltag herumschlage, lädt er zehn seiner Freunde zu einer Geburtstagsfeier ein, um abends allein mit Kartoffelsalat, Würstchen, Chips und Bier dazustehen ohne überhaupt eine einzige Absage erhalten zu haben - nähern wir uns doch aneinander an. Wir treffen uns auch ohne unsere Mütter, gehen zusammen unter dem Vorwand, ich suchte eine gescheite Mix-Cassette und bräuchte einen Ratgeber, sein Geburtstagsgeschenk einkaufen, essen Eis, machen mit dem Fahrrad kleine Ausflüge in die Umgebung. Er spielt Gitarre in der Schulband; als unsere Schule geschlossen werden sollen, ändern sie kurzerhand “Let it be” von den Beatles in unseren Schul-Protestsong; er spielt mir “Hello Again” auf seiner Gitarre vor, und ich finde das kein Stück peinlich, sondern ganz wundervoll. Jedenfalls schmachte ich ihn an, und er mich auch - man kann es beinahe greifen, und trotzdem bleibt unsere Gemeinsamkeit auch bei dieser Sternwanderung, die so viele gute Möglichkeiten geboten hätte, weiterhin eine, die außerhalb der Schule außerhalb des Blickes derer, vor denen wir bestehen wollen und müssen, stattfindet.___

Seufzend geben wir irgendwann auf - sie sind so weit weg von uns wie sie nur sein können, ohne in einer anderen Galaxie zu leben, und wenden uns uns selbst zu, beratschlagen Strategien zur Aufmerksamkeitsgewinnung, werten Blicke oder Nicht-Blicke aus, lästern über Lehrer, ekeln uns ein wenig vor den Mitschülern aus den höheren Stufen, die jetzt schon betrunken sind und zeigen uns stolz gegenseitig die heimlich gekauften oder aus dem heimischen Badezimmerschrank entwendeten Schminkutensilien. Wir haben uns zusammen eine BRAVO gekauft und lesen sie uns gegenseitig vor, essen Würstchen vom Grill und trinken Orangensaft aus kleinen Tetrapacks.
Bei der Rückfahrt sitzt einer der Lehrer, über den wir morgens noch gelästert haben, im Sitz neben uns; er ist dicklich, hat ein vierschrötiges Gesicht und ein Pflaster auf dem Kinn, wegen eines Pickels, dessen Ansicht er niemandem zumuten möchte, wie er den älteren Schülern, die mit ihm dort sitzen, erzählt. Sie haben ein Cassettengerät dabei und hören Savage Progress - My soul unwraps tonight in der Endlosschleife. Der Lehrer schaut begierig auf die Tüte Katzenpfoten in meiner Hand, und aus lauter Verlegenheit biete ich ihm welche an. Er greift zu und verwickelt uns in ein Gespräch, in dessen Verlauf wir feststellen, er ist ein extrem netter Lehrer - ganz so viele nette haben wir nicht. Später werde ich bei ihm Latein lernen, an meiner an diesem Tag gewandelten Einschätzung wird sich trotzdem nichts ändern.
My soul unwraps tonight kenne ich an diesem Tag noch nicht, ringe mich aber irgendwann dazu durch, einen der Älteren danach zu fragen und erhalte wider Erwarten sogar eine Antwort; es wird mich von diesem Tag an eine kleine Ewigkeit begleiten, wegen der Dauerbeschallung und auch als Symbol der vorübergehenden Überwindung meiner immensen Schüchternheit.

Der T. und ich werden uns Stückchen für Stückchen näher kommen, bis eine andere Rothaarige, die mutiger ist als ich und die blaue statt meiner grünen Augen hat, ihn vier Wochen lang hartnäckig jeden Tag anrufen wird, und er nach drei Wochen ebenso hartnäckigen Leugnens erst ans Telefon gehen wird und dann mit ihr (nennt man das eigentlich noch immer so, “miteinander gehen”?). Ich werde eine Weile leiden und mich dann einem anderen Ziel zuwenden, das ich mit mehr Erfolg anschmachten kann.
Empfundene tausend Jahre später werde ich beide, inzwischen miteinander verheiratet und mit einem Stall voller schlecht erzogener, aber charmanter Kinder versorgt, bei einem Geburtstag meines Vaters wiedertreffen, und ich werde denken, er hat sich nicht verändert, nur alt sieht er aus, und müde. Er wird sich freuen, mich zu treffen, sie hingegen wird sich gar nicht freuen, sondern mich misstrauisch beäugen, was mir wiederum eine große Freude sein wird.

Aber all das wissen wir an diesem Tag natürlich noch nicht, und so genießen wir ihn, sind entspannt und sowohl guter Dinge als auch Hoffnung; wir freuen uns, keinen Unterricht zu haben, sondern ihn auf so angenehme Art miteinander verdaddeln zu können. Die nähere Zukunft, sie strahlt, nur für uns.

I can turn
your disaster to fun.
Aiyee aiyee
My soul unwraps tonight.
[Soundtrack meines Lebens]
 
 
Soundtrack meines Lebens, eins.
Jeden Menschen, zumindest nach meiner unbescheidenen Meinung jeden, der nicht abgrundtief verkommen ist, begleiten Zeit seines Lebens Lieder - solche, die in der Endlosschleife gespielt oder auch nur beständig wieder gehört werden, zu denen man tanzt oder weint oder glückselig grinst; solche, die Ausdruck einer Zeit, eines Gefühls oder simple Statusanzeige sind; die Veränderungen wenn auch nicht einleiten, so doch immerhin begleiten.
Weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe, hörte ich in den letzten Tagen intensiv in mich hinein und suchte neben dem einen oder anderen auch nach ebendieser Musik. Und wurde höchsterfreut fündig.
Die Suche nach den passenden Soundfiles erwies sich gleich zu Anfang als schwierig; durch beherztes Eingreifen eines Menschen, der derlei Abstrusitäten zwar nicht selbst sammelt, aber jemanden kennt, der das tut, kann ich Ihnen aber heute Nummer eins der in den nächsten Wochen stattfindenden Reihe Soundtrack meines Lebens vorstellen: Vorhang auf für Lena Valaitis mit “Johnny Blue”!

Versetzen Sie sich zurück in die Kinderzimmerwelt eines sich beständig streitenden, aber doch innig liebenden kupferrothaarigen Zwillingspaares, nennen wir sie Kornelia und Klaudia, in den frühen Achtzigern. Auf dem Boden liegen neben Bilderbüchern, Matchboxautos und Barbiepuppen Plattenstapel - schief übereinander liegende Cover, die Platten nur noch zum Teil in den Hüllen befindlich, aber immerhin säuberlich aufrecht an einem Schrank aufgestellt.
Auf den Betten, die weitestmöglich auseinanderstehen (”Klaudia schnarcht immer so!”), stapeln sich Kleider der Mutter der beiden; solche aus Synthetikfasern, die mit psychedelischem Muster in grün-orange oder schwarz-weiß bedruckt sind, einfarbige Minikleider mit tief angesetztem Hüftgürtel, weite mit Plisseerock. Kopftücher in vielen Farben, klimpernde Ohrringe, hellblauer Lidschatten und andere Schminkutensilien, eine Federboa - wer auch immer die angeschleppt hat. Ein paar extrovertierte Hüte der Großmutter der beiden, und ein Gürtel mit allerlei klingelndem Tand daran, den die u., die dritte im Bunde, heimlich für den großen Auftritt im Kinderzimmer der Freundinnen aus dem Kleiderschrank ihrer Mutter entliehen hat.
Die drei sind selbstvergessen erst damit beschäftigt, sich Sachen anzuziehen, denn früher waren die Dinge eben Sachen, in diesem Falle Anziehsachen; dann damit, sich ungeschickt und mit unsicherer Hand den hellblauen Lidschatten großflächig gegenseitig auf die Lider zu streichen und zur Verstärkung der Erwachsenenwirkung noch einen hellroten Lippenstift aufzutragen. Mit diesem grotesken Ergebnis verunstaltet posieren die drei dann der Reihe nach für einen imaginären Kameramann, schmeißen ihm Kusshände zu und schauen tief und verheißungsvoll in sein imaginäres Objektiv - eine von ihnen leckt sich lasziv über die Lippen, weil sie das mal in einem Film gesehen hat, was die anderen beiden erst erröten, dann in lautes Gelächter ausbrechen lässt - nicht zuletzt, weil es albern aussieht und der Sinn dahinter jenseits ihrer Vorstellungskraft liegt.
Sie singen “Johnny Blue” in das Mikrofon, das zum Tonbandgerät aus dem Wohnzimmer gehört, eine nach der anderen, dann alle zusammen, für das imaginäre Publikum; sie breiten die Arme aus und halten sich das Herz, sie krümmen sich zusammen und atmen auf. Tosender Applaus, Zugabe! Zugabe!-Rufe, die drei machen einen verlegenen Knicks, ziehen sich für Beratungen zurück und geben eine Zugabe - natürlich “Johnny Blue”, ihren großen Hit. Nebenan klopft der ältere Bruder der Zwillinge entnervt gegen die Wand, aber er wird nicht beachtet, denn er hasst sowieso alles und jeden und beschwert sich, egal was man tun oder nicht tut.
Am Ende liegen sie kichernd auf dem Bett des einen Zwillings, sie haben verschwitzte Gesichter mit roten Wangen und verschmiertem Lippenstift, von unten ruft die Mutter der Zwillinge, sie mögen bitte leiser sein, denn sie wolle telefonieren, aber in der Küche stehe ein halber Gugelhupf neben drei Gläsern warmer Milch und warte auf sie.
Kinderglück - Freundinnen, Verkleidungsspiele und ein warmer Kuchen. Was braucht man schon mehr?
Lena Valaitis singt “Kinder können grausam sein”. Diese drei sind es nicht, nicht an diesem Tag. Sie sind drei Freundinnen an einem Herbsttag, die sich nach der Schule, in der sie gerade lernen, den Zahlenraum bis 20 zu beherrschen, zusammen auf einen Ausflug in eine ihnen angenehme Scheinwelt begeben.
[Soundtrack meines Lebens]
 
 
Soundtrack meines Lebens, fünf.
Der G., beharrliche Beständigkeit und Konstanz in meinem Leben, macht Abi, verschwindet demzufolge von der gemeinsam besuchten Schule und lässt mich dort zurück, mehr oder minder allein. Ich finde das gar nicht gut.
Was ich ebenfalls gar nicht gut finde ist, dass er nun zum Bund muss; sofort ganz weit weg stationiert wird und wir uns nur noch wochenends sehen - wenn überhaupt.

Der G. wird seltsam, seine Ausgeglichenheit verlässt ihn - er wird
sozusagen betreuungsintensiv. Damit kann ich nicht umgehen, denn betreuungsintensiv bin ja schon ich selbst. Wir geraten häufig
aneinander, und ich verstehe weder ihn noch die Welt. Mich selbst habe ich ja ohnehin nie so recht verstanden.

Bei der Geburtstagsfeier eines Freundes - der G. ist einmal mehr nicht dabei, weil er fern irgendeinen Dienst schiebt - lerne ich die Clique um den A. kennen, den der G., wiederum von dessen Exfreundin, der S., die jetzt immer am G. rumgräbt, schon länger kennt und mag. Ich mag den A. auch, und der A. mag mich. Wir mögen uns also alle irgendwie gegenseitig und bahnen uns unseren Weg in ein klassisches Teenager-Dilemma.

Zur Stufenparty kommen sie alle, und ich bin hin- und hergerissen
zwischen der Verbundenheit zum G., meinem Schuldbewusstsein und dem heimlichen Wissen, dass ich viel lieber beim A. bin als beim G., der extra mit einer Freundin angereist ist, obwohl er keine Lust auf die Party hatte.

Bonnie Tyler singt über die Dunkelheit und die Liebe - ich lande mit dem A. und einigen seiner Freunde in einem kleinen, laut mitsingenden Kreis, er ist mir genau gegenüber und schaut mich unverwandt singend an. Mein Gesicht brennt. Den Blick vom G. spüre ich in meinem Nacken. Auch er brennt.

Ich wehre mich mit Händen und Füßen gegen den A., als aber an Silvester, das ich unter anderem mit dem A. und wieder ohne den G. verbringe, weil der wie immer im Skiurlaub weilt, der A. leicht betrunken in meiner Gegenwart darüber philosophiert, dass er ein Glückspilz und ein Pechvogel zugleich sei - beides aus dem Grund, mich zu kennen, bricht eine selbstgesteckte Grenze und ich weiß, so geht es nicht weiter. Es folgt eine tränenreiche Trennung vom G., und bald darauf ein strahlender Beginn mit dem A. Meine Mutter sagt, wie schön ich doch sei, wenn ich verliebt sei. Ich finde, ich sehe überhaupt eher übernächtigt aus.

Dieses Glück - Sie als abgeklärte Erwachsene haben es sicher schon lange geahnt - ist nicht von Dauer, aber ich bin dumm, jung und naiv genug, daran zu glauben. Solange es dauert. Dann: Total Eclipse of the Heart . Die hält aber auch wieder nicht so ganz lange an.


(Diese Rubrik, anderswo begonnen, liegt mir zu sehr am Herzen, um sie nicht fortzusetzen. Einige der Leser, die meisten der hier regelmäßig vorbeischauenden wissen eh, wo dieses anderswo liegt, kennen die vorherigen Soundtracks bereits. Für die anderen möglicherweise interessierten habe ich sie hierher kopiert.)
[Soundtrack meines Lebens]
 
 
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