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24
September
Soundtrack meines Lebens, drei.
Nachdem ich also eine angemessene Zeit , in etwa vier bis sechs Wochen also, gelitten habe, wende ich mich wieder dem pubertären Leben zu - was heißt, ich hasse mich selbst und meine Eltern im Wechsel, teste alle möglichen Schminktipps und trage Kleidung in Farben und Schnitten, die man euphemistisch als unvorteilhaft beschreiben kann. Warum? Weil es toll ist, warum denn sonst? Meine besten Freundinnen tragen orange und apfelgrün, warum sollte ich das dann nicht auch tun?!

Und nein, nicht mehr die Zwillinge sind meine besten Freundinnen, auch nicht die, die es noch zur Zeit der Sternwanderung waren - von den einen habe ich mich abgewandt, so wie die anderen sich von mir abgewandt haben - meine aktuellen besten Freundinnen sind die a., die quasi um die Ecke wohnt, die h. und die s., aber die s. nicht richtig, die hängt sich nur genau wie ich an die h. und buhlt um ihre Gunst - eine Gunst, die ich innezuhaben glaube. Außerdem ist da der t., zwei Stufen über uns, Volleyballspieler, den die h. kennt, und den ich toll finde (die s. natürlich auch, denn die findet alle toll, die ich toll finde).
Jedenfalls finde ich den t. so toll, dass ich, nachdem ich gemeinschaftlich mit der h. beschlossen habe, den Religionsunterricht zu blocken allein reiche nicht mehr aus, Religion offiziell abwähle und damit in dieser Zeit in einer anderen Klasse hospitieren muss. Ich heuchle reges Interesse daran vor, mich für die anstehende, folgenschwere Entscheidung zwischen Latein und Französisch zu wappnen, und suche mir zum Hospitieren die Klasse vom t. aus. Von da an himmle ich ihn, um genau zu sein seinen Hinterkopf, zwei Stunden pro Woche von ganz hinten aus der Klasse an. Am Ende habe ich ihn allein durch schweigende Präsenz so weit gebracht, dass er mich wahrnimmt und, wenn er nachmittags auf sein weißes Mofa steigt, um knatternd den Schulparkplatz zu verlassen, grüßend die behandschuhte Hand hebt.

Ich spare all mein Taschengeld, um Platten zu kaufen; bei einem Elektrohändler im anderen Teil meines Vorortes bestelle ich die Maxi von Frankie goes to Hollywoods “Power of Love” für den nahezu unerschwinglichen Preis von 13 Mark und höre es stundenlang - die Nadel versetze ich mit nicht gekannter Geduld immer wieder an den Anfang der Rille.

Nach ungefähr eineinhalb Jahren spricht der t. sogar mit mir; und irgendwann fragt er mich auf dem Schulhof, ob ich mit ihm gehen will. Entrückt nicke ich, wir nehmen uns gegenseitig an die Hand und gehen also miteinander, vorerst zu den anderen zurück, die uns unverhohlen und neugierig bei unserer Beziehungsbildung zugeschaut haben.
Wie das mit dem Küssen ist, lernen wir zwei - er schmerzlich, ich eigentlich auch, aber anders - am nächsten Tag, als wir uns nach einem Nachmittag, den wir Hände haltend und schmachtend gegenüber sitzend am Wohnzimmertisch verbracht haben, voneinander verabschieden wollen und er mir seine Zunge in den Mund schiebt, in die ich sowohl erschrocken als auch herzhaft beiße (Im Laufe der Jahre werden meine Kußfähigkeiten sich noch verbessern, jedenfalls sollen keine Klagen mehr kommen). Natürlich kann ich meine Verwirrtheit auch darauf schieben, dass mein Vater, als er nachmittags vom Baumarkt heimkommt und uns so einträchtig beieinander sitzen sieht, nichts Besseres zu tun hat als dem t. einen Aufkleber des Baumarktes zu schenken, dessen Aufschrift lautet “Mit Liebe nageln.”. Dass ich vor Scham und überhaupt gern hochroten Gesichtes im Erdboden versinken möchte, erklärt sich von selbst.

Samstags fahren wir mit einem Haufen Freunde Eislaufen, wofür wir alle zusammen am Hauptbahnhof in einen Bus steigen, der uns eine halbe Stunde lang durch die Gegend karrt, um uns in der Nachbarstadt mit Eisstadion in einen ungezwungenen Nachmittag zu entlassen. Samstags ist auch Hauptarbeitstag an unserem Haus; der schreinernde Opa ist da und baut mit dem Vater das aus und um, was noch aus- und umzubauen ist, und alle, mich eigentlich eingeschlossen, haben alle Hände voll zu tun. Es kostet mich Mühe, meinen Bruder oder die anfallenden Aufgaben abzuschütteln, aber oft, wenn auch nicht immer, gelingt es mir.

Latin Quarter ist eine der Bands, die der t. in mein Leben bringt; zuerst kaufe ich die Platte, weil mich interessiert, was er hört, dann höre ich sie, weil ich sie mag. Später kaufe ich sogar die CD, als die Platte abgeschrammelt nicht mehr hörbar ist; mein Lieblingslied wechselt ständig, aber es ist Modern Times, mit dem meine Liebe zu der Band beginnt.
Wir sehen uns in den Schulpausen, wir sehen uns nachmittags, wir streiten uns und versöhnen uns, um uns wieder zu streiten - und wenn wir uns nicht sehen und streiten und versöhnen, schreiben wir uns lange Briefe, in denen wir uns wechselseitig unsere Liebe immer und immer wieder versichern, und in denen wir uns über unseren jeweiligen Kampf mit einem Elternteil (er mit seinem Vater, ich mit meiner Mutter) auslassen.

An dem Nachmittag, an dem er mir lapidar und kurzab am Telefon mitteilt, dass er mich nicht mehr liebt und es deswegen aus ist - “Ich liebe dich nicht mehr und deshalb ist es aus” - lege ich entsetzt erst auf, warte dann, ob er nochmal anruft - er ruft nicht nochmal an - und rufe dann in Tränen aufgelöst die a. an; dort erfahre ich, dass sie gerade eben eine Krisensitzung mit dem r. bezüglich des Endes meiner Beziehung hält, denn der r. hat den t. am Tag zuvor bereits mit seiner neuen Freundin gesehen.
Sie kommen mit drei Tüten Gummibärchen vorbei, die wir solidarisch teilen; die a. mag die grünen am liebsten, der r. die roten, und ich die gelben und orangenen. Mit den weißen bewerfen wir uns hysterisch kichernd gegenseitig; einige von ihnen werde ich Jahre später, als ich ausziehe, mit einer klebrigen Staubschicht überzogen hinter einem Schrank von der Wand abknibbeln.
Zum Eislaufen baue ich ein eher gespaltenes Verhältnis auf - nicht zuletzt, weil der t. es als quasi beste Möglichkeit ansieht, mir seine neue Freundin vorzustellen, indem er sie vor meinen Augen im Pausenraum, während im Inneren ein Planierfahrzeug das aufgerauhte Eis wieder glättet, sehr innig küsst. Ich lege mich auf die Eisbahn und lasse mich planieren, eine dünne Eisschicht überzieht mich, lähmt mich, hindert mich an jeder weiteren Bewegung. Ich bin gefroren und taub.

Es heißt “The first cut is the deepest”, und lange werde ich daran glauben - vielleicht aber auch nur, weil für eine lange Zeit überwiegend meine Hand es sein wird, die das Messer führt; jedenfalls bin ich für den Moment mehr als bedient. Ich bin fünfzehn Jahre alt, leide fürchterlich unter meiner Eisschicht, bin ungeheuer unleidlich, verkrache mich in Folge dessen mit meinen besten Freunden und werde ins Kloster gehen, sobald ich die Schule hinter mich gebracht haben werde. Soviel ist sicher.
[Soundtrack meines Lebens]

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