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24
September
Soundtrack meines Lebens, zwei.
Sternwanderung in der Schule, ein warmer Frühlingstag; wir sind mit dem Zug ins Niemandsland des Hochsauerlandkreises gefahren und arbeiten uns zum gemeinsamen Endziel, an dem sich alle Stufen wiedertreffen, vor.
Wir Freundinnen hängen zusammen in einer Ecke und schmachten die Objekte der Begierde an - jede von uns einen aus einer Gruppe Freunde drei Stufen höher, manche von uns auch gleich zwei - man nimmt das in diesem Alter irgendwie noch nicht so genau - eh ist das Begehren mehr eines um des Begehrens Willen als das Verliebtsein in eine bestimmte Person.
Da uns unser eigenes Schmachten selbst peinlich ist, achten wir ebenso peinlich darauf, dabei unter uns zu bleiben, und so schicken wir Kornelia, deren Zwilling heute krank daheim bleiben musste, weg - “nichts gegen dich, natürlich, aber, naja, wir wollen lieber unter uns sein”. Eines der Dinge, die ich getan habe, die mir jetzt noch leid tun und es wohl auch immer tun werden - Kinder und Grausamkeit, gewollt oder nicht gewollt, welche Rolle spielt das schon? Aber so ist es, wir schicken sie weg, und natürlich geht sie, sie ist eh immer der unaufdringlichere der Zwillinge gewesen, und sucht sich eine andere Gruppe, der sie sich anschließen kann.

___ Einen von ihnen, den T., kenne ich, und den schmachte ich natürlich an; er ist der Sohn einer Freundin meiner Mutter, und wir haben uns vor ein paar Monaten kennengelernt, als meine Mutter mich nötigte, zum Besuch bei der Freundin mitzukommen, um ihn mal kennenzulernen, der sei nämlich ein richtig Netter.
Das ist er wirklich, auch wenn uns anfangs nicht viel mehr verbindet als die Ablehnung des überwiegenden Teils unserer Mitschüler - während ich mich mit kleineren und größeren Schikanen im allgemeinen Schulalltag herumschlage, lädt er zehn seiner Freunde zu einer Geburtstagsfeier ein, um abends allein mit Kartoffelsalat, Würstchen, Chips und Bier dazustehen ohne überhaupt eine einzige Absage erhalten zu haben - nähern wir uns doch aneinander an. Wir treffen uns auch ohne unsere Mütter, gehen zusammen unter dem Vorwand, ich suchte eine gescheite Mix-Cassette und bräuchte einen Ratgeber, sein Geburtstagsgeschenk einkaufen, essen Eis, machen mit dem Fahrrad kleine Ausflüge in die Umgebung. Er spielt Gitarre in der Schulband; als unsere Schule geschlossen werden sollen, ändern sie kurzerhand “Let it be” von den Beatles in unseren Schul-Protestsong; er spielt mir “Hello Again” auf seiner Gitarre vor, und ich finde das kein Stück peinlich, sondern ganz wundervoll. Jedenfalls schmachte ich ihn an, und er mich auch - man kann es beinahe greifen, und trotzdem bleibt unsere Gemeinsamkeit auch bei dieser Sternwanderung, die so viele gute Möglichkeiten geboten hätte, weiterhin eine, die außerhalb der Schule außerhalb des Blickes derer, vor denen wir bestehen wollen und müssen, stattfindet.___

Seufzend geben wir irgendwann auf - sie sind so weit weg von uns wie sie nur sein können, ohne in einer anderen Galaxie zu leben, und wenden uns uns selbst zu, beratschlagen Strategien zur Aufmerksamkeitsgewinnung, werten Blicke oder Nicht-Blicke aus, lästern über Lehrer, ekeln uns ein wenig vor den Mitschülern aus den höheren Stufen, die jetzt schon betrunken sind und zeigen uns stolz gegenseitig die heimlich gekauften oder aus dem heimischen Badezimmerschrank entwendeten Schminkutensilien. Wir haben uns zusammen eine BRAVO gekauft und lesen sie uns gegenseitig vor, essen Würstchen vom Grill und trinken Orangensaft aus kleinen Tetrapacks.
Bei der Rückfahrt sitzt einer der Lehrer, über den wir morgens noch gelästert haben, im Sitz neben uns; er ist dicklich, hat ein vierschrötiges Gesicht und ein Pflaster auf dem Kinn, wegen eines Pickels, dessen Ansicht er niemandem zumuten möchte, wie er den älteren Schülern, die mit ihm dort sitzen, erzählt. Sie haben ein Cassettengerät dabei und hören Savage Progress - My soul unwraps tonight in der Endlosschleife. Der Lehrer schaut begierig auf die Tüte Katzenpfoten in meiner Hand, und aus lauter Verlegenheit biete ich ihm welche an. Er greift zu und verwickelt uns in ein Gespräch, in dessen Verlauf wir feststellen, er ist ein extrem netter Lehrer - ganz so viele nette haben wir nicht. Später werde ich bei ihm Latein lernen, an meiner an diesem Tag gewandelten Einschätzung wird sich trotzdem nichts ändern.
My soul unwraps tonight kenne ich an diesem Tag noch nicht, ringe mich aber irgendwann dazu durch, einen der Älteren danach zu fragen und erhalte wider Erwarten sogar eine Antwort; es wird mich von diesem Tag an eine kleine Ewigkeit begleiten, wegen der Dauerbeschallung und auch als Symbol der vorübergehenden Überwindung meiner immensen Schüchternheit.

Der T. und ich werden uns Stückchen für Stückchen näher kommen, bis eine andere Rothaarige, die mutiger ist als ich und die blaue statt meiner grünen Augen hat, ihn vier Wochen lang hartnäckig jeden Tag anrufen wird, und er nach drei Wochen ebenso hartnäckigen Leugnens erst ans Telefon gehen wird und dann mit ihr (nennt man das eigentlich noch immer so, “miteinander gehen”?). Ich werde eine Weile leiden und mich dann einem anderen Ziel zuwenden, das ich mit mehr Erfolg anschmachten kann.
Empfundene tausend Jahre später werde ich beide, inzwischen miteinander verheiratet und mit einem Stall voller schlecht erzogener, aber charmanter Kinder versorgt, bei einem Geburtstag meines Vaters wiedertreffen, und ich werde denken, er hat sich nicht verändert, nur alt sieht er aus, und müde. Er wird sich freuen, mich zu treffen, sie hingegen wird sich gar nicht freuen, sondern mich misstrauisch beäugen, was mir wiederum eine große Freude sein wird.

Aber all das wissen wir an diesem Tag natürlich noch nicht, und so genießen wir ihn, sind entspannt und sowohl guter Dinge als auch Hoffnung; wir freuen uns, keinen Unterricht zu haben, sondern ihn auf so angenehme Art miteinander verdaddeln zu können. Die nähere Zukunft, sie strahlt, nur für uns.

I can turn
your disaster to fun.
Aiyee aiyee
My soul unwraps tonight.
[Soundtrack meines Lebens]

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