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28
Oktober
Heute morgen brachte ich als erste Handlung des Tages ein Paket zur Post; zu spät, denn es hätte heute bereits sein Ziel erreichen sollen. Es wäre im Grunde nicht nötig gewesen, mich zu verspäten, aber irgendwas kam dazwischen. Immerhin waren meine Absichten gut. Als ob das jemals irgendjemandem weitergeholfen hätte.

Dafür rief ich heute aber auch jemanden an, den ich schon vor einem Jahr hätte anrufen sollen, und kündigte Post an, die bereits seit einem Monat fertig eingetütet auf meinem Schreibtisch darauf wartet, dass ich mich aufraffe, sie anzukündigen - leise, ohnehin sind es dort mehr die Zwischentöne, die zählen. Diese Post werde ich morgen einwerfen. Endlich. Erleichterung. Die Schuld, die ich abgebe. Ich habe keine Bringschuld mehr, ohnehin hatte ich keine, jedenfalls keine, die nicht aus mir selbst kam.

Neulich bekam ich eine Mail von einer früheren Freundin; warum wir uns aus den Augen verloren hatten, ist mir gar nicht mehr klar. Ausgeschlichen, wie bei Medikamenten, die man zu lange genommen hat.
Sie ist in meiner Erinnerung die lebensfroheste Person, die ich kenne, ein Flummi, immer guter Laune, voller verrückter Ideen.
Wir schreiben vorsichtig Details unserer letzten vier Jahre hin und her, und ich muss erfahren, dass sie zwei davon in Krankenhäusern verbracht hat, ihr Leben beim Fernsehen aufgeben musste und jetzt schwerbehinderte Teilrentnerin ist.

Was es mich lehrt? Nichts, ich hadere weiterhin, weil das Hadern elementarer Bestandteil meines Wesens ist. Habe ich nichts zu hadern, hadere ich damit. So einfach ist das. Ich wünschte, es wäre anders, ich wäre anders, aber das bin ich nicht. Nicht in Tagen wie diesen, denn Was ich haben kann, das will ich nicht - und was ich haben will, das weiß ich nicht. - kleine Abwandlung eines prominenten Liedes.

Gedanken über Würde. Einen Satz dazu gelesen, der mir nicht mehr aus dem Kopf geht; ohne zu wissen, warum. Vielleicht nur, weil er so gut formuliert ist, wer weiß das schon? Ich jedenfalls nicht.

So viel zu lesen, lauter wissenschaftliche Texte, deren impliziter Sinn sich mir häufig nur schwer erschließen will; eine Parallele. Ich weiß nicht, was soll es bedeuten.

Den Bruder hat die Freundin verlassen. Sie ließ es sich allerdings nicht nehmen, vorher schnell noch mit ihm in einen 700 Kilometer entfernt liegenden Ort in eine gemeinsame, große Wohnung zu ziehen, bevor sie eine Woche später die Waffen streckte. Der schimpfenden Mutter sage ich, Auch so geht Leben, und Man irrt eben immer wieder, und manchmal willwillwill man eben wollen, obwohl man schon lange weiß, dass man eigentlich nicht mehr will, aber insgeheim denke ich auch, das hätte man sich sparen können, wenigstens das ganz große Drama hätte man nicht noch mitnehmen müssen.
Wenn ich mit ihm telefoniere, ist er gefasst und sachlich. Sie hatten ihre Zukunft gemeinsam geplant, die Praxis, der eigene Bauernhof, Kinder. Er sagt, er müsse so viel arbeiten, dass er gar keine Zeit zum Leiden habe. Ich hoffe, er bleibt noch eine Weile beschäftigt; ich ertrage es nicht gut, wenn es ihm nicht gut geht. Er ist mein verdammter kleiner Bruder.

Stille Tage, dieser Tage.
Das Lauteste, was mir passiert, sind die Stimmen in meinem Kopf, sie brabbeln einen undurchschaubaren Quark, den ich nicht einmal zu ordnen mir die Mühe mache, vor sich hin.
Und hier steht er nun, und wartet darauf, wieder abgeräumt zu werden, irgendwohin, wo er vor sich hin gammeln kann.
[Leben. All das.]

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.. Wenn ich mir was wünschen dürfte
käm ich in Verlegenheit
was ich mir denn wünschen sollte,
eine schlimme oder gute Zeit.
Wenn ich mir was wünschen dürfte
möcht ich etwas glücklich sein
denn sobald ich gar zu glücklich wäre
hätt ich Heimweh nach dem Traurigsein...

(Georgette Dee, Wenn ich mir was wünschen dürfte)


P.S. Kleine Brüder... nein, die sollten nicht leiden müssen....
 
Oder eben so.
Aber ich will gar nicht zu tragisch klingen, solche Tage folgen eben anderen Tagen. Oder Wochen. Oder so.

Herrnfrau Dee werde ich ja auch nochmal sehen, wenn ich ihnsie mehr genießen kann als damals.
 
Mal scheint einem die Sonne aus dem Arsch und mal regnet es. Phasen. Die vergehen. Kommen wieder. Vergehen. Und so weiter.

(Herrnfrau Dee hätte ich gerne im September in Hamburg gesehen, aber hier ist ja immer noch kein Wegkommen. Und wenn, ist erst mal mein kleiner Bruder dran, der steht auf der Warteliste ganz oben.)
 
Die Arschkrampen :)

(Gehen wir einfach demnächst mal in B zusammen, wenn du deinen Bruder heimgesucht haben wirst)
 
das ganz große Drama [...] noch mitnehmen
ist noch deutlich steigerungsfähig. leider.
 
Natürlich, schlimmer geht immer. Aber in diesem Rahmen ist es das schon, das ganz große Drama. Die beiden sind sehr unaufgeregte Menschen.

(Ich war aber auch schon bei einer Hochzeit, die 14 Tage später keinen Bestand mehr hatte, weil die Braut kurz vorher noch dem besten Freund des Bräutigams mit allem, was sie hatte, verfallen war und es leider erst nach der Hochzeit sagte. Natürlich hätte sie sich auch noch schwängern lassen können, von wem auch immer. Und so weiter.)
 
Wie geht denn der Satz über Würde? Über die denk ich nämlich auch recht oft nach dieser Tage.
 
Er ist kurz: "und würde nicht nur als konjunktiv." Quelle: argh.de
 
Seeeehr geil, danke. :o)
 
Man schreibt weder für sich selbst noch für andere.
Man schreibt aus einer tiefen inneren Notwendigkeit.
-- Anaïs Nin
 
Nun schrieb Frau Nin ja auch ganz andere Sachen als ich hier :)
 
Das Zitat fiel mir trotzdem spontan beim Lesen deines Postings ein :-)
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